Samstag, 5. November 2016

Der katastrophale Vesuvausbruch des Jahres 79 n. Chr. in den antiken Schriftquellen



Die heute vermutlich bekannteste Naturkatastrophe in der Antike war der verheerende Ausbruch des Vesuvs im Jahr 79 n. Chr. Die kampanischen Orte Herculaneum, Stabiae, Oplontis und Pompeji wurden dabei vollkommen zerstört. Wenig überraschend ist es, dass dieses einschneidende Ereignis in mehreren antiken Quellen Erwähnung findet: Zu nennen sind hier nachfolgende Autoren bzw. Schriften, von denen ich drei herausgreifen und etwas genauer in Augenschein nehmen werde.

  • Plinius d.J., Epistulae VI, 16 u. VI, 20
  • Cassius Dio, Historia Romana, Epitome 66, 21-24
  • SuetonDe historicis fragmenta 80
  • Martial, Epigramme IV, 44)
  • Statius, Silvae IV, 4,78-86)
  • Unbekannt, Oracula Sibyllina IV, 125-136
  • Plutarch, De Pythiae Oraculis IX, 398 E
  • Sueton, Titus, 8, 3f
  • Marcus Aurelius, Confessiones I, 48, 1-4
  • Tertullian, Apologeticum (2. Fassung) 40, 1-9
  • Tertulian, De paenitentia 12,1-4
  • Minucius Felix, Octavius 35, 3f

Hinweis: Interessierten sehr zu empfehlen ist das bei Reclam erschienene Büchlein Pompeji in antiken Texten; darin enthalten sind nicht nur verschiedene zeitgenössische Schriften zum Vesuvausbruch, sondern auch Überlieferungen, die sich im Allgemeinen mit der Stadt Pompeji und ihrer Umgebung beschäftigen. Weiterführende Links dazu befinden sich am Ende des Beitrages.


PlutarchDe Pythiae Oraculis IX, 398 E
"Waren nicht diese unlängst geschehenen Naturereignisse in der Gegend von Cumae und Dikaiarcheia, die in den sybillinischen Versen schon vor langer Zeit besungen und vorhergesagt waren, gleichsam eine Schuld, welche die Zeit getilgt hat? Zu nennen sind die Ausbrüche des Vulkans, das Aufwallen des Meeres, das Wiederanfachen ausgebrannter Felsen durch die Gewalt des Windes und die Vernichtung so großer und so alter Städte zur selben Zeit, was zur Folge hatte, dass man vom nächsten Tag an durch die Veränderungen der Landschaft nicht mehr die Stelle zu erkennen vermochte, wo jene Städte sich befanden."
Diese Überlieferung enthält mehrere Merkwürdigkeiten und ist daher besonders interessant: Die kampanischen Städte Cumae und Dikaiarcheia (= lat.: Puteoli / ital.: Pozzuoli) liegen zwar in der Nähe des Vesuvs, waren aber, anders als Pompeji, nicht der totalen Vernichtung anheim gefallen. Ihre Erwähnung wird von einigen Forschern mit den mangelnden Ortskenntnissen des Griechen Plutarch erklärt. Doch sind an dieser These gewisse Zweifel angebracht, denn der Vesuv brach zu Lebzeiten des Autors aus und das Unglück schlug - wie andere Quellen nahelegen - ausreichend hohe Wellen, um speziell die Vernichtung Pompejis weithin bekannt zu machen. Möglicherweise wollte Plutarch mit der Nennung von Cumae (berühmt für sein Orakel) und Dikaiarcheia/Puteoli (bekannt für seine Puzzolanerde) lediglich den mit Italien weniger gut vertrauten Lesern einen brauchbaren Hinweis dafür geben, wo ungefähr die Katastrophe einst stattfand; das verschüttete Pompeji selbst taugte als Ortsangabe ja kaum noch. Wobei freilich keinesfalls davon ausgegangen werden darf, dass der Standort der Stadt bereits kurz nach ihrem Untergang in völlige Vergessenheit geriet. Vielmehr zeigen archäologische Befunde, dass gerade in den Wochen und Monaten nach der Katastrophe das Gelände in größerem Umfang durchwühlt wurde. Neben Kunstschätzen barg man sogar die Marmorverkleidungen öffentlicher Gebäude. Und noch im 4. Jahrhundert waren möglicherweise Schatzsucher vor Ort tätig; das legt nämlich eine von Archäologen in den untersten Schichten entdeckte Münze aus dieser Zeit nahe. Auch ist Pompeji auf spätantiken Straßenkarten eingezeichnet, die als Vorlage für die Tabula Peutingeriana dienten. 
Das von Plutarch erwähnte "Aufwallen des Meeres" wird uns in ähnlicher Form weiter unten bei Plinius noch einmal begegnen. Es steht in direktem Zusammenhang mit dem Vesuvausbruch.
Was ist mit dem "Wiederanfachen ausgebrannter Felsen durch die Gewalt des Windes" gemeint? Möglicherweise handelt es sich um eine Anspielung auf zeitlich weit zurückliegende Ausbrüche des Vesuvs. Hinweise dazu finden sich bei Vitruv, der schon im späten 1. Jh. v. Chr. schrieb: "Auch wird berichtet, vor alter Zeit seien Feuerbrände herausgewachsen, hätten sich unter dem Vesuv angesammelt und von dort aus Feuer rings über die Felder gespien. Und daher scheint damals das, was Schwammstein oder pompeianischer Bimsstein genannt wird, aus einer anderen Art von Stein ausgeglüht und dadurch in seine jetzige Beschaffenheit gebracht worden zu sein." (De Architectura II, 6, 2). Geologen datieren den letzten großen Ausbruchs des Vesuvs, der vor dem Untergang Pompejis stattfand, in die Bronzezeit; ca. 1780 v. Christus wurden dabei mehrere Siedlungen zerstört. Sollte die von Vitruv angesprochene Überlieferung darauf Bezug nehmen, dann spräche dies für ein außerordentlich langes kollektives Gedächtnis der Bewohner des betroffenen Landstrichs. Doch wäre es auch möglich, dass Vitruv einfach nur alltägliche bzw. mindere vulkanische Tätigkeit meint, wie sie beispielsweise Cassius Dio in seinem Bericht über die Zerstörung Pompejis am Rande erwähnt (Historia Romana, Epitome 66, 21-24). So oder so: Den um den Vesuv lebenden Menschen war größtenteils sicher bewusst, dass vom Vulkan eine latente Gefahr ausging; auch wenn sie diese schlussendlich unterschätzten.


Sueton, Titus, 8, 3f
Unter seiner [Titus] Herrschaft geschahen einige schicksalhafte und traurige Ereignisse, so der Ausbruch des Vesuvs in Kampanien [...]. Für den Wiederaufbau Kampaniens wählte er aus der Zahl der ehemaligen Konsuln durch Los Bevollmächtigte aus. Die Güter der am Vesuv Verschütteten, bei denen Erben nicht vorhanden waren, verwendete er für den Wiederaufbau der hart getroffenen Gemeinden.
"Hart getroffen" waren auch die nicht komplett verschütteten Gemeinden und Landgüter in der Umgebung des Vesuvs: Einerseits wegen den mit dem Vulkanausbruch einhergehenden Erdbeben, andererseits wegen des immensen Asche-Niederschlags (siehe Grafik), der viele Feldfrüchte vernichtet und Weideflächen zugedeckt hatte; auch der Fischbestand litt (laut Cassius Dio) schwer. 




Plinius der Jüngere, Epistulae VI, 16 u. VI, 20

Die zweifellos bedeutendsten, interessantesten und spannendsten antiken Schriftzeugnisse über den Vesuvausbruch im Jahr 79 n. Christus stammen von Plinius dem Jüngeren. In zwei Briefen schildert er farbig und glaubwürdig die Katastrophe, in der sein Onkel, Plinius der Ältere, den Tod fand.
Plinius grüßt seinen Freund Tacitus!
Du möchtest, dass ich dir über das Ende meines Onkels schreibe, damit du der Nachwelt so wahrheitsgetreu wie möglich berichten kannst. Ich danke dir, denn ich sehe, dass seinem Tod, wenn er von dir dargestellt wird, unsterblicher Ruhm in Aussicht gestellt ist. [...] 
Er hielt sich in Misenum auf und führte dort persönlich mit seinem Kommando die Flotte. Am 24. August, ungefähr zur siebten Stunde, machte ihn meine Mutter darauf aufmerksam, dass sich eine Wolke von ungewöhnlicher Größe und Gestalt zeige. Er hatte ein Sonnenbad, dann ein kaltes Bad genommen, hatte im Liegen etwas gegessen und war gerade in seine Studien vertieft. Er verlangte nach seinen Sandalen und stieg auf eine Stelle, von der aus man jene auffallende Erscheinung besonders gut betrachten konnte. Für Betrachter aus der Ferne war es nicht zu erkennen, aus welchem Berg die Wolke aufstieg (erst später erfuhr man, dass es der Vesuv war). Ihre Gestalt war keinem Baum ähnlicher als der Pinie. Denn wie von einem sehr hohen Stamm in die Höhe gehoben, breitete sich die Wolke in mehreren Ästen aus, ich glaube, weil sie, durch einen kräftigen Luftstoß in die Höhe getrieben, ohne Auftrieb war, als dieser schwächer wurde, oder sich auch, vom eigenen Gewicht dazu gebracht, in die Breite verflüchtigte. Sie war zuweilen weiß, zuweilen schmutzig und fleckig, je nachdem sie Erde oder Asche mit nach oben gebracht hatte. Meinem Onkel als hochgebildetem Mann schien dies bedeutsam und näherer Betrachtung wert.
Er ließ einen Schnellsegler startklar machen. Mir gab er die Gelegenheit mitzukommen, wenn ich wollte. Ich antwortete, ich wolle lieber studieren. Zufällig auch hatte er mir etwas gegeben, was ich schreiben sollte. Er war dabei, aus dem Haus zu gehen: Da erhielt er Schreibtäfelchen von Rectina, der Frau des Tascus, die durch die drohende Gefahr in großen Schrecken versetzt war (denn ihr Haus lag am Fuße des Vesuvs, und Flucht war nur auf Schiffen möglich). Sie bat, er möge sie aus der bedrohlichen Situation befreien. Nun änderte er seinen Plan; was er aus wissenschaftlichem Interesse begonnen hatte, nahm er nun mit Heldenmut auf sich. Er ließ einen Vierruderer klar machen und bestieg das Schiff, um nicht nur Rectina, sondern auch vielen anderen Hilfe zu bringen (denn die reizvolle Küstengegend war dicht besiedelt). Er eilte dorthin, von wo andere flohen; und er hielt Kurs und die Steuerruder direkt in die Gefahr hinein. Er war dabei so frei von Furcht, dass er alle Phasen dieser Katastrophe, alle ihre Erscheinungsformen, wie er sie mit den Augen wahrgenommen hatte, seinem Schreiber diktierte und aufzeichnete. Schon fiel Asche auf die Schiffe, wärmer und dichter, je näher sie heranfuhren. Schon fielen auch Bimssteine und schwarze, ausgebrannte und von Feuer geborstene Steine, schon tat sich plötzlich eine Untiefe auf und die Ufer waren durch Bergrutsch unzugänglich. Er zögerte ein wenig, ob er nicht doch umkehren solle; dann sagte er dem Steuermann, der ihn mahnte, dies zu tun: "Das Glück hilft den Tapferen: Fahre zu Pomponianus!" Dieser befand sich in Stabiae auf der anderen Seite der Bucht (denn das Meer ergießt sich hier allmählich in die sanfte Krümmung der Küste). Obwohl sich die Gefahr noch nicht näherte, war sie dennoch sichtbar, und als sie wuchs, sehr nahe. Pomponianus hatte Gepäck auf Schiffe bringen lassen, entschlossen zur Flucht, sobald sich der Gegenwind gelegt hätte. Mit diesem für ihn in dieser Situation sehr günstigen Wind fuhr mein Onkel zu Pomponianus, umarmte den Zitternden, tröstete ihn und munterte ihn auf. Und um dessen Angst mit seiner eigenen Unbesorgtheit zu lindern. ließ er sich ins Bad bringen. Nach dem Bad lag er zu Tisch und speiste heiter oder, was ebenso mutig ist, einem Heiteren ähnlich.
Inzwischen leuchteten vom Vesuv her an mehreren Stellen sehr breite Flammenflächen und hochragende Feuer auf, deren heller Schein durch die Dunkelheit der Nacht verstärkt wurde. Als Mittel gegen die Angst der Leute erklärte mein Onkel immer wieder, dies seien Herdfeuer, die Bauern in ihrer Verwirrung alleingelassen hätten, und aufgegebene Villen, die in Flammen ständen, weil sie verlassen worden seien. Darauf begab er sich zur Ruhe und schlief auch einen tiefen Schlaf. Denn das Ein- und Ausatmen, das wegen seiner Körperfülle ziemlich schwer und laut war, wurde von denen, die sich vor der Schwelle des Schlafraums aufhielten, gehört. Aber der Innenhof, von dem aus man Zugang zum Zimmer hatte, war schon so hoch mit Asche gefüllt, dass ein Verlassen unmöglich gewesen wäre. wenn er sich noch länger im Schlafraum aufgehalten hätte. Er wurde geweckt, trat heraus und begab sich wieder zu Pomponianus und den anderen, die wach geblieben waren. Gemeinsam berieten sie, ob sie in den Häusern bleiben oder im Freien umhergehen sollten. Denn die Häuser schwankten von den zahlreichen heftigen Erdstößen und schienen, sozusagen aus den Fundamenten gehoben, sich zu entfernen oder zurückgetragen zu werden.
Unter freiem Himmel wiederum fürchtete man das Herabfallen von Bimssteinen, wenn auch nur von leichten und ausgebrannten. Indessen wählte man beim Vergleich der Gefahren diese zweite Möglichkeit aus. Bei meinem Onkel besiegte dabei die eine Überlegung die andere, bei den anderen siegte die eine Angst über die andere. Sie banden Kissen, die sie sich auf den Kopf gelegt hatten mit Leinentüchern fest; das diente als Schutz gegen herunterfallende Steine. Schon war es anderswo Tag, dort aber Nacht, dichter und schwärzer als alle anderen Nächte. Doch machten sie viele Fackeln und vielerlei Lichter erträglich. Man beschloss, zum Strand zu gehen und aus nächster Nähe zu schauen, ob das Meer eine Flucht zulasse. Das allerdings blieb immer noch aufgewühlt und widrig. Dort legte sich mein Onkel auf ein ausgebreitetes Leinentuch nieder, verlangte wiederholt kaltes Wasser und trank es. Darauf trieben Flammen und, als Vorbote der Flammen, Schwefelgeruch die anderen in die Flucht und brachten ihn dazu aufzustehen. Gestützt auf zwei junge Sklaven erhob er sich und brach sofort wieder zusammen, weil, wie ich vermute, durch den immer dichter werdenden Rauch das Atmen schwerer geworden und die Luftröhre schließlich verschlossen war, die bei ihm von Natur aus kränklich, eng und häufig asthmatisch war. Sobald wieder Tag geworden war (es war der dritte von dem Tag an gerechnet, den er als letzten gesehen hatte), wurde sein Körper gefunden: unversehrt, unverletzt und angezogen, wie er bekleidet gewesen war. Die äußere Erscheinung des Körpers war einem Schlafenden ähnlicher als einem Toten.
Währenddessen waren ich und meine Mutter in Misenum. Aber das hat keinen Bezug zu deiner Geschichtsschreibung [...].
Uns sind keine Schriften des Geschichtsschreibers Tacitus überliefert, in denen das Leben von Plinius dem Älteren thematisiert wird. Die Einleitung des Briefs bleibt somit ein wenig rätselhaft.
Im kampanischen Misenum befand sich einer der beiden großen römischen Flottenstützpunkte (der andere war in Ravenna). Plinius der Ältere kam aus dem Ritterstand und hatte mit dem prestigeträchtigen Posten als praefectus classis Misenensis (Befehlshaber der Flotte von Misenum) möglicherweise den Gipfelpunkt seiner Karriere erreicht. Bekannt ist er uns heute vor allem wegen der von ihm verfassten Enzyklopädie Naturalis historia (Naturgeschichte). Wenig überraschend ist, dass es für diesen naturwissenschaftlich interessierten Mann eine einmalige Gelegenheit darstellte, einen Vulkanausbruch aus nächster Nähe beobachten zu können. Dabei scheint er freilich die Gefahren unterschätzt zu haben.
Den Schilderungen seines Neffen ist die wichtige Information zu entnehmen, dass um den Vesuv zum Zeitpunkt des Ausbruchs ein auflandiger Wind vorherrschte und es dadurch den Bewohnern nicht möglich war, mit Segelschiffen aufs offene Meer zu entkommen. Bestätigt wird dies durch geologische Untersuchungen, die zeigen, in welche Richtung die Aschewolke hauptsächlich getragen wurde (siehe obige Grafik); der Wind blies tatsächlich in Richtung der südlich des Vulkans gelegenen Küste. Dieser unglückliche Umstand könnte die Opferzahl deutlich nach oben getrieben haben. Andererseits heißt es bei Cassius Dio, Menschen seien auch aufs Meer hinaus geflüchtet (Historia Romana, Epitome 66, 21-24). Möglicherweise hatte also der Wind ab einem bestimmten Zeitpunkt gedreht - oder es sind hier Menschen gemeint, die weiter nördlich des Vulkans lebten - oder die Flüchtenden besaßen geruderte Schiffe, die unabhängig vom Wind navigieren konnten. Cassius Dio, der im Gegensatz zu Plinius nicht als Augenzeuge dabei war, könnte freilich auch einer irreführenden Information aufgesessen sein.
Das überlieferte Datum - der 24. August (79 n. Chr.) - wird von manchen Forschern in Zweifel gezogen, denn archäologische Befunde zeigen unter anderem, dass zumindest einige Menschen in der Stunde ihres Todes schwere Gewänder aus Wolle trugen. Deutet dies vielleicht darauf hin, dass der Vulkanausbruch erst Monate später - nämlich im Herbst oder Winter - stattfand? Oder wollten man sich mit den dicht gewebten Stoffen nur vor Asche und Hitze schützen? Fakt ist jedenfalls, dass die von mittelalterlichen Mönchen angefertigten Kopien antiker Texte oft Fehler bei den Datumsangaben enthalten. Hinzu kommt der Fund einer Münze, die laut Expertenmeinungen angeblich erst im September 79 n. Chr. geprägt worden sein kann; aufgrund des Fundortes wird überdies ausgeschlossen, dass sie von einem später eingedrungenen Plünderer verloren wurde. Und doch ist ja gerade bei Münzfunden immer Vorsicht geboten, wie ich hier schon einmal festhielt.

Während im ersten Brief vor allem das Schicksal des Onkels im Mittelpunkt stand, so schildert Plinius der Jüngere im zweiten ausschließlich persönlich Erlebtes. Das Geschriebene wirkt dadurch noch eindrücklicher und dramatischer!
Caius Plinius grüßt seinen Freund Tacitus!
Du sagst, dass du, veranlasst durch jenen Brief, welchen ich dir auf deine Bitte hin über den Tod meines Onkels geschrieben habe, erfahren willst, welche Ängste und auch welche gefährlichen Ereignisse ich, als ich in Misenum zurückgeblieben war, durchgestanden habe (ich hatte meinen Bericht darüber ja abgebrochen). Obwohl ich zurückschrecke, mich daran zu erinnern, will ich nun beginnen.
Nachdem mein Onkel aufgebrochen war, verbrachte ich die Zeit mit Lernen (aus diesem Grund war ich ja zurückgeblieben). Dann ein Bad, das Essen und ein unruhiger, kurzer Schlaf. Vorausgegangen waren mehrere Tage lang Erdbeben, die allerdings weniger furchterregend waren, weil sie ja in Kampanien üblich sind. In jener Nacht aber wurde das Beben dermaßen stark, dass man glaubte, alles wanke nicht nur, sondern stürze ganz um. Meine Mutter stürzte in mein Schlafzimmer. Ich meinerseits war auch gerade dabei aufzustehen, um sie zu wecken, falls sie schliefe. Wir setzten uns in den Hof des Hauses, der als kleiner Platz das Meer vom Haus trennt. Ich weiß nicht recht, ob ich es Besonnenheit oder Unvorsichtigkeit nennen soll (ich war nämlich achtzehn Jahre alt): Ich verlangte ein Buch des Titus Livius, las, als ob ich Muße dazu hätte, und machte sogar Auszüge, wie ich es seit einiger Zeit zu tun begonnen hatte. Es erschien ein Freund meines Onkels, der vor kurzem aus Spanien zu ihm gekommen war. Als er mich und meine Mutter da sitzen, mich sogar lesen sah, schalt er deren Untätigkeit und meine Sorglosigkeit. Ich aber blieb um nichts weniger eifrig in mein Buch vertieft.
Schon war die erste Morgenstunde da und doch war das Tageslicht noch ungewiss und sozusagen matt. Schon waren die um uns liegenden Gebäude von den Erdstößen erschüttert. Daher bestand große Furcht vor deren Einsturz an diesem zwar offenen, aber dennoch engen Platz. Da endlich schien es angebracht, die Stadt zu verlassen. Eine Menge Leute folgte uns in Panik, und was in der Panik der Klugheit ähnlich ist: Sie zog einen fremden Entschluss dem eigenen vor, und in einem riesigen Zug stieß sie uns Weggehende vorwärts. Als wir das Wohngebiet hinter uns gelassen hatten, hielten wir an. Wir sahen dort manch Wundersames und litten viele Ängste. Denn die Wagen, die wir hatten mitnehmen lassen, schwankten hin und her, obwohl sie sich auf vollkommen ebenem Gelände befanden; und nicht einmal durch Steine blockiert blieben sie an derselben Stelle stehen. Außerdem sahen wir, wie das Meer in sich zurückflutete und vom Erdbeben sozusagen zurückgeschoben wurde. Der Strand jedenfalls hatte sich vergrößert und hielt auf trockenem Sand allerlei Seegetier fest. Auf der anderen Seite eine Wolke, schwarz und schreckenerregend durch ihren feurigen Luftzug; von gewundenen und zuckenden Schlangen- und Zickzacklinien unterbrochen, teilte sie sich in lange Feuerlinien; sie waren Blitzen ähnlich, doch größer.
Da sagte jener Freund aus Spanien ziemlich scharf und eindringlich: "Wenn dein Bruder, wenn dein Onkel noch lebt, will er, dass ihr wohlbehalten seid; wenn er hingegen tot ist, wollte er, dass ihr überlebt. Warum also zögert ihr, der Gefahr zu entrinnen?" Wir antworteten, wir würden es nicht dazu kommen lassen, für unser Wohlergehen zu sorgen, ohne über seines Gewissheit zu haben. Da hielt es ihn nicht länger bei uns, er stürzte los, und in schnellem Lauf machte er sich auf und davon aus der Gefahr. Nicht viel später senkte sich jene Wolke auf die Erde nieder, bedeckte das Meer, hatte Capri umgeben und verborgen und hatte den Blicken entzogen was von Misenum ins Meer ragt. Da bat, mahnte und forderte meine Mutter, ich solle auf jede sich bietende Weise fliehen; als junger Mann könne ich es. Sie, beschwert von Alter und Körperfülle, werde in Frieden sterben, wenn sie nicht der Grund meines Todes sei. Ich sagte dagegen, dass ich wohlbehalten sein werde nur zusammen mit ihr. Dann umfasste ich ihre Hand und zwang Sie, den Schritt zu beschleunigen. Sie gehorchte widerwillig und machte sich Vorwürfe, dass sie mich aufhalte. Schon regnete es Asche, zunächst noch spärlich. Ich blickte zurück: Dicker Qualm drohte von hinten, der, in der Art eines Sturzbaches über die Erde ergossen, uns folgte. "Lass uns vom Weg abbiegen, solange wir etwas sehen, damit wir nicht, zu Boden gestoßen, in der Dunkelheit von der Menge der mit uns Fliehenden niedergetrampelt werden."
Kaum hatten wir uns hingesetzt, da wurde es auch schon Nacht, nicht wie eine ohne Mond oder eine bewölkte Nacht, sondern wie in geschlossenen Räumen, wenn das Licht gelöscht ist. Man hatte das Geheul der Frauen, das Wimmer der Kinder und das Geschrei der Männer hören können. Die einen suchten durch Rufen nach ihren Eltern, andere nach ihren Kindern, wieder andere nach ihren Ehegatten, sie erkannten sie nur noch an den Stimmen. Die einen beklagten ihr eigenes Unglück, andere das Unglück der Ihren. Es gab welche, die aus Angst vor dem Tod den Tod erbaten; viele hoben die Hände zu den Göttern, nicht wenige erklärten, es gebe nirgends mehr irgendwelche Götter und jene ewige, letzte Nacht für die Welt sei nun da. Es fehlten auch nicht solche, die mit frei erfundenen und erlogenen Schauergeschichten die wahren Gefahren vergrößerten. Es waren auch welche da, die fälschlich verkündeten, dabei aber auf Glauben stießen, in Misenum sei dieses eingestürzt und jenes stehe in Flammen. Es wurde ein wenig heller. Dies schien uns nicht das Tageslicht, sondern das Anzeichen eines näher kommenden Feuers zu sein. Aber das Feuer blieb in größerer Entfernung stehen. Dann wieder Asche, viel und schwer. Wir schüttelten sie ab, indem wir uns immer wieder aufrichteten; anderenfalls wären wir zugedeckt und von ihrem Gewicht sogar erdrückt worden. [...] Endlich wurde jener Qualm dünner und verflüchtigte sich sozusagen in Rauch und Dunst. Bald wurde wirklicher Tag, sogar die Sonne leuchtete auf, wenn auch fahl, wie sie zu scheinen pflegt, wenn sie untergeht. Unseren ängstlichen Blicken erschien alles verändert und von einer hohen Schicht Asche so wie von Schnee überzogen. Wir kehrten nach Misenum zurück und, nachdem wir, so gut es ging, für unsere Körper gesorgt hatten, verbrachten wir eine Nacht voller Ungewissheit zwischen Hoffen und Bangen. Es überwog die Furcht, denn das Beben der Erde dauerte an, und die meisten Menschen, von schreckenerregenden Weissagungen außer sich vor Furcht, trieben ihren Spott sowohl mit ihrem eigenen als auch mit fremdem Unglück. Selbst in dieser Situation hatten wir nicht die Absicht wegzugehen, solange wir keine Nachricht über meinen Onkel hatten, obwohl wir die Gefahr kennengelernt hatten und sie auch wieder erwarteten. [...]
Obwohl Misenum, der Ort wo die Familie Plinius wohnte, nicht im Kernbereich der Aschewolke lag, so war den Schilderungen zufolge selbst dort der Niederschlag immer noch außerordentlich stark. Dies passt zu der oben bereits zitierten Stelle in Suetonts Titus-Vita, wo geschrieben steht, große Gebiete Kampaniens seien vom Vulkanausbruch in Mitleidenschaft gezogen worden. Selbst in etlichen Kilometern Entfernung reichte die Menge der Asche noch aus, um die Flora und Fauna massiv zu schädigen. Cassius Dio schreibt, sogar der Himmel Roms sei verdunkelt worden und Resten der Asche wären bis nach Syrien und Ägypten gelangt (tatsächlich fand man kleinste Mengen mittlerweile auch im Eis der Antarktis).
Ebenfalls interessant ist Plinius' Bericht, dass sich das Meer während des Ausbruchs zurückzog. Dabei handelt es sich um ein auch heute noch allzu bekanntes Phänomen, das beispielsweise vor dem Auftreten von Tsunamis zu beobachten ist, die durch ein Seebeben ausgelöst wurden. Allerdings ist in keinem der überlieferten historischen Texte von großen Überflutungen nach dem Vesuv-Ausbruch die Rede.
Und zu guter Letzt: Wie ist die Aussage zu verstehen, dass die mitgeführten Fuhrwerke sich plötzlich nicht mehr weiterbewegen ließen? Wie war die beschriebene Blockade der Räder möglich?


Sicher ebenfalls von einiger Bedeutung sind die Überlieferungen des Cassius Dio, von dem ich ja bereits oben einiges in meine Anmerkungen eingeflochten habe. Doch würde es hier zu weit führen, auch die einschlägigen Texte dieses Autors näher zu behandeln. 

Abschließend noch zwei Videos, die einige Leser schon kennen dürften. Im ersten wird der vermutliche Ablauf der Ereignisse am Tage des Vesuvausbruchs in komprimierter Form veranschaulicht. Das zweite Video zeigt den Ausbruch eines Vulkans in Papua-Neuguinea; wenn man bedenkt, dass es sich hier eigentlich um eine vergleichsweise kleine Eruption handelt, dann lässt sich ein wenig erahnen, welche Energien erst im Jahr 79 n. Chr. beim Ausbruch des Vesuvs freigesetzt wurden.



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Quellen / weiterführende Literatur:

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4 Kommentare:

  1. Besonders beim Lesen des 2. Briefs ist mir aufgefallen, dass der Autor Robert Harris für seinen Roman "Pompeji" offenbar viel von Plinius Berichten übernommen hat. Beispielsweise das Umherirren auf der von Vulkanasche vollkommen verdunkelten Straße. Nur dass es bei Harris der Held und seine Freundin sind, anstatt Plinius und seiner Mutter.
    Und danke für den Literaturtipp, das Reclam-Buch ist schon bestellt.

    Liebe Grüße,
    Britta

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    1. Den Roman kenne ich. Harris verwendet darin tatsächlich auffällig viel von Plinius' Bericht wieder.

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  2. Danke für den Beitrag, einige der angesprochenen Aspekte des Vesuv-Ausbruchs waren mir nicht bekannt. Auch die Quellensammlung von Reclam kannte noch nicht. Ich denke, die werde ich mir auch zulegen. Ist da Cassius Dio auch dabei?
    QX

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    1. Ja. Auch alle anderen Quellen, die zu Beginn des Beitrages aufgelistet wurden, sind enthalten. Zusätzlich einige weitere, die nicht direkt den Vesuvausbruch behandeln, sondern die Gegend um den Vesuv in der Zeit davor. Z.B. Passagen aus Catos "De Agri Cultura" usw.

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