Sonntag, 23. Oktober 2016

Buch: Anabasis - Der Marsch der Zehntausend

Wir befinden uns im östlichen Mittelmeerraum des späten 5. Jahrhunderts vor Christus. Der verheerende Peloponnesische Krieg zwischen den beiden Mächten Athen und Sparta liegt erst wenige Jahre zurück, als sich im kleinasiatischen Teil des riesigen Perserreichs ein weiterer Großkonflikt anbahnt: Kyros der Jüngere sammelt unter falschen Vorwänden ein Heer, mit dem er seinen Bruder, den Großkönig Artaxerxes II., vom Thron stoßen möchte. Angelockt von der Erwartung auf reiche Beute befinden sich unter den angeworbenen Söldnern auch über 10.000 kriegserfahrene Griechen. Einer von ihnen ist der aus attischem Landadel stammende Sokrates-Schüler Xenophon; erst auf das Zureden eines Freundes und nach Befragung des Orakels von Delphi hatte er sich dem Vorhaben angeschlossen. Dieser Xenophon ist es dann auch, der den Feldzug - vor allem aber den abenteuerlichen, von ständigen Kämpfen gekennzeichneten Rückzug nach dem Schlachtentod des Kyros bei Kunaxa - als Augenzeuge in seinem Buch Des Kyros Anabasis beschreibt (meist nur Anabasis genannt; Anabasis = Hinaufmarsch).
Die Darstellung der wahrscheinlichen Route ist auf der nachfolgenden Karte zu sehen; eine Variante in hoher Auflösung findet sich auf meiner Flickr-Seite.



Gelegentlich stellt Xenopphon die Geduld des Lesers mit der Wiedergabe von allzu langatmigen (Heeres-)Ansprachen auf die Probe (eine Marotte etlicher antiker Geschichtsschreiber - siehe etwa auch Livius). Doch entschädigen dafür vollauf die unzähligen informativen Schilderungen des Soldatenlebens, der Kriegsführung sowie die zahlreichen Einblicke in die verschiedenen Sitten und Gebräuche der Bewohner Kleinasiens, durch deren Land die Griechen zogen und mit denen sie immer wieder heftig aneinander gerieten. Es folgen ein paar interessante Beispiele aus dieser Informationsflut: 

  • Zum mindestens dritten Mal kam mir hier in einer antiken Schriftquelle der Hinweis auf mit Luft gefüllte Tierhäute unter; in diesem speziellen Fall sollten sie zu einer Art schwimmenden Brücke zusammengebunden werden, um darauf mit dem Heer einen Fluss zu überqueren. Die Idee wurde allerdings von den Anführern der Griechen verworfen. (3,5,8-12).  
  • Die rhodischen Schleuderer der Griechen schleuderten ihre Geschosse zweimal so weit wie die Perser, da sie Bleikugeln verwendeten, die Perser jedoch faustgroße Steine (3,3,16-19)
  • Lustig fand ich eine Beobachtung, die Xenophon und seine Soldaten bei der Einquartierung in einem armenischen Dorf machten: Von Mischkrügen mit Gerstenwein (?) ist die Rede, in denen Strohhalme schwammen: "Man musste sie nur in den Mund nehmen und daran saugen." Das gemeinschaftliche Trinken aus großen Behältern kennt man auch heute noch von Ballermann-Urlaubern. Interessant, wie außerordentlich alt diese Tradition bereits ist ;) (4,5,26-28)
  • Mit dem griechischen Heer zogen viele "Dirnen" bzw. Prostituierte. Vor einer Schlacht beteiligten auch sie sich am Kriegsgeschrei der Männer (4,3,19).
  • Das Schuhwerk der Griechen hielt den langen Märschen nicht stand (die vergleichsweise bescheidene Haltbarkeit von Schuhen mit Ledersohle kennt jeder Living-History-Darsteller). Die Soldaten fertigten sich daher als Behelf sogenannte "Bauernschuhe", die aus frisch abgezogener Rinderhaut bestanden (4,5,14).
  • Während des Marsches entlang der südlichen Schwarzmeerküste bedienten sich einige der Soldaten am Honig wilder Bienen. Daraufhin wurden sie von üblen Halluzinationen, Erbrechen und Durchfall geplagt, einige fielen sogar in einen komaähnlichen Zustand, doch erholten sie sich wieder völlig. (4,8,20-21). Die Bienen dürften große Mengen an Blütenstaub gesammelt haben, der von Pflanzen stammt, die für den Menschen giftig sind; z.B. Rhododendron und Oleander. Übrigens, im Jahr 66 v. Chr. erlitt die Vorhut einer römischen Armee in derselben Gegend ein ähnliches Schicksal wie 350 Jahre zuvor Xenophons Kameraden; nur dass die halluzinierenden Legionäre das Pech hatten, im falschen Moment von Feinden überrascht und niedergemacht zu werden.
  • usw. usf.

Nicht unwahrscheinlich ist, dass Alexander der Große Xenophons Bericht kannte. Er dürfte daraus wohl manch wichtige Information und Inspiration für seinen eigenen Feldzug gegen die Perser entnommen haben. Vor allem jene, dass selbst ein nur 10000 Mann starkes griechisches Heer, völlig auf sich alleine gestellt, über viele Monate hinweg gegen eine fast immer feindlich gesinnte Bevölkerung und die gewaltige Übermacht der Perser bestehen konnte.


Fazit: Sehr interessant! Die immerhin bereits aus dem Jahr 1958 stammende, 284-seitige Reclam-Übersetzung von Helmut Vretska liest sich überraschend angenehm. Neben einem Register und einer durchaus nützlichen Landkarte wurden auch viele Anmerkungen/Endnoten angefügt. Unterm Strich stell dieses Büchlein für mich eine absolut positive Überraschung dar.

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1 Kommentar:

  1. Schlauchbote, Alkohol aus Eimern, Drogen und Cheerleader, die ihre Mannschaft anfeuern: Die alten Griechen waren uns offensichtlich gar nicht so unähnlich! :-)
    LG,
    Erwin

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